Moral des Jaguars

30.8.15 Der Jaguar schwimmt zielstrebig durch den Fluss, den Blick äußerst konzentriert auf den Kaiman gerichtet, der sich am Ufer sonnt. Die letzten Meter legt der Räuber mit zwei Sätzen zurück, der Kaiman wendet sich noch mit geöffnetem Maul nach hinten, da packt ihn der Jaguar schon im Genick. Der Angreifer schleppt seine Beute ins Wasser und macht sich mit der schweren Last davon. Wieso frisst er den Kaiman nicht an Ort und Stelle? Der Platz ist genauso geschützt wie irgendein anderes Versteck. Will der Jaguar Fressfreunde vermeiden? Die sind aber alle weit weg, die Reviere sind oft hundert Kilometer gross. Will er seine Tat nicht in die Öffentlichkeit bringen? Dann sähe er voraus, dass die anderen Kaimane die Gefahren von faul in der Sonne liegen erkennen und zukünftig auf der Hut sein könnten. Der Jaguar zieht die Folgen seiner Tat in Betracht und versucht sie zu verbergen. Als habe er ein schlechtes Gewissen gegenüber der tierischen Allgemeinheit.
Futterneid, Beutesicherung: Tiere haben Emotionen, und damit haben sie eine Seele und ein Ichbewusstsein. Sonst würden sie die Folgen ihrer Tat nicht bedenken. Ganz sicher haben Tiere ein intensiveres Gefühlsleben als der Stammbaumstreber Mensch, der seine Spitzenposition durch seelische Verarmung erreicht hat, bzw. eine Spitzenposition in jener seelischen Verarmung innehat, die er Stammbaum nennt.
Allerdings hat das Moralsystem der Raubtiere im Vergleich zu dem des Menschen den entgegengesetzten Stellenwert.
Beim jüngsten Gericht wird die Seele des Jaguars, der nicht genügend Morde zusammenbringt, in die Raubtierhölle verworfen, wo die lieben Löwen zahnlos neben Lämmern hausen.
So, daraus jetzt ein Lied machen. Oder ein Gedicht. Oder nix.